Probezeit ist Beschäftigung, angemessene Vorkehrungen
Einem Arbeitnehmer, der wegen seiner Behinderung seine Tätigkeit nicht mehr ausüben kann,
darf auch in der Probezeit nicht ohne Weiteres gekündigt werden.
Vielmehr müssen Arbeitgeber zunächst prüfen, ob eine anderweitige Beschäftigung möglich ist.
Entschied der EuGH am 10.02.2022 in der Rechtssache C-485/20.
Der Fall
Der Arbeitnehmer wurde im konkreten Fall von der belgischen Eisenbahngesellschaft, HR Rail,
als Facharbeiter eingestellt, um die Schienenwege zu warten und instand zu halten.
Innerhalb der Probezeit wurde bei ihm eine Herzkrankheit diagnostiziert, die einen Herzschrittmacher erforderlich machte.
Ein solcher reagiert empfindlich auf elektromagnetische Felder, die unter anderem in Gleisanlagen verbreitet auftreten.
Damit konnte der Arbeitnehmer die Aufgaben, für die er eingestellt wurde, nicht länger ausüben.
Seine Behinderung wurde behördlich festgestellt, wobei es hieß, dass eine anderweitige Tätigkeit möglich sei.
Nachdem das Unternehmen ihn darauf zunächst als Lagerist weiterbeschäftigte,
beendete der Arbeitgeber schließlich die Probezeit.
Er kündigte, weil der Arbeitnehmer aufgrund seiner Behinderung nicht mehr in der Lage gewesen sei,
die ursprüngliche Tätigkeit auszuüben.
Vorlage an den Europäischen Gerichtshof
Der Arbeitnehmer klagte vor dem belgischen Arbeitsgericht gegen seine Entlassung.
Er machte geltend, wegen seiner Behinderung diskriminiert worden zu sein.
Nach seiner Auffassung müsse das Unternehmen ihn anderweitig weiterbeschäftigen.
Das belgische Arbeitsgericht hat das Verfahren ausgesetzt und den EuGH
um Auslegung der europäischen Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie (Richtlinie 2000/78/EG) gebeten.
Diese untersagt die Diskriminierung von Menschen mit Schwerbehinderung im Arbeitsverhältnis.
Nach Art. 5 der Richtlinie muss der Arbeitgeber ''angemessene Vorkehrungen für Menschen mit Behinderungen'' treffen,
um die Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes auf Menschen mit Behinderung zu gewährleisten.
Pflicht des Arbeitgebers, Schwerbehinderte anderweitig zu beschäftigen
Das belgische Arbeitsgericht hat festgestellt, dass der Arbeitnehmer nach belgischem Recht als behindert einzustufen ist.
Vom EuGH wollte es wissen, ob ''angemessene Vorkehrungen'' auch bedeute,
dass Arbeitgeber verpflichtet sind, eine Person, die aufgrund ihrer Behinderung nicht mehr in der Lage ist,
die wesentlichen Funktionen ihres bisherigen Arbeitsplatzes zu erfüllen, an einem anderen Arbeitsplatz zu beschäftigen.
Vorausgesetzt, dass er die notwendige Kompetenz, Fähigkeit und Verfügbarkeit besitzt
und eine solche Maßnahme keine übermäßige Belastung für den Arbeitgeber darstellt.
Arbeitgeber muss anderweitige Weiterbeschäftigung prüfen
Dies hat der EuGH mit seiner aktuellen Entscheidung bestätigt. Wer wegen einer Behinderung seine bisherige Stelle
nicht mehr ausüben kann, kann danach Anspruch auf eine für ihn passende Stelle im gleichen Unternehmen haben.
Voraussetzung dafür ist, dass es eine freie Stelle gibt, die für den Arbeitnehmer geeignet ist.
Zudem dürfe der Arbeitgeber nicht unverhältnismäßig belastet werden.
Ob dies der Fall sei, hänge etwa vom finanziellen Aufwand sowie der Größe, den finanziellen Ressourcen
und dem Gesamtumsatz des Unternehmens ab. Dies zu beurteilen, ist Sache der nationalen Gerichte.
EU-Richtlinie für Gleichbehandlung gilt auch in der Probezeit
Die Luxemburger Richter stellten klar, dass dies unabhängig von einer endgültigen Einstellung im Unternehmen ist.
Der Umstand, dass sich der entlassene Arbeitnehmer zum Zeitpunkt seiner Kündigung
noch in der Probezeit befand und noch nicht endgültig eingestellt war,
führe nicht dazu, dass ''seine berufliche Situation vom Geltungsbereich der Richtlinie 2000/78 ausgenommen sei''.
Hinweis für die Praxis
Ob eine Weiterbeschäftigung zu zumutbaren Bdingungen, wird die belgische Justiz nun im weiteren Verfahren prüfen müssen.
Wenn der belgische Bahnbedienstete im letzten Teil seiner Probezeit als Lagerist arbeiten konnte,
könnte sich darauf auch eine für HR Rail zumutbare Weiterbeschäftigungsmöglichkeit stützen lassen.
Auch für den Kündigungsschutz schwerbehinderter Menschen in Deutschland
könnte das Urteil aus Brüssel einige Verbesserungen bedeuten, wenn die deutschen Arbeitsgerichte es umsetzen.
Denn der besondere Schutz schwerbehinderter Menschen greift wie das KSchG erst,
wenn ein Arbeitsverhältnis mindestens sechs Monate dauert, also nach der üblichen sechsmonatigen Probezeit.
Auch die Rechtsauffassung des BAG, wonach in der Wartezeit nach § 1 Abs. 1 KSchG
kein Präventionsverfahren nach § 167 Abs. 1 SGB IX durchzuführen ist, könnte unhaltbar werden.
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